Am 11. Januar 2019 veröffentlichte die Zeit einen Beitrag von Julia Friese, einer Autorin im Musikbereich. Sie beschreibt in diesem eindrucksvoll, ihr Leben mit einer generalisierten Angststörung – die Anfänge, den Moment der Diagnose und ihre aktuelle Entwicklung. Dies möchte ich zum Anlass nehmen, um einen Beitrag über eben jene Erkrankung zu verfassen.
Sorgen über Sorgen – der Dreh- und Angelpunkt
Julia Friese (2019) schreibt: „Ich überlud mich mit Sorgen und Verpflichtungen und den wiederum dazugehörigen Sorgen, den Verpflichtungen nicht gerecht zu werden.“. Sorgen sind „Gedankenketten, die sich mit möglichen bedrohlichen zukünftigen Ereignissen beschäftigen.“ (Becker, 2009, S. 89). Menschen, die unter einer generalisierten Angststörung (kurz GAS) leiden, sorgen sich um nahezu alles. Dabei stehen insbesondere alltägliche Begebenheiten im Fokus der Aufmerksamkeit: Beruf, Familie, Verletzungen, Finanzen, gewöhnlicher Kleinkram, um einige Beispiele zu nennen. Erwartungen, ob im kleineren Rahmen oder in Bezug auf die Welt sind meist angstbehaftet. Personen mit GAS wirken oft überbesorgt, ständig in Gedanken gefangen und sind nicht gerade für ihre optimistische Einstellung bekannt (Morschitzky, 2004). Die Sorgen laufen dabei meist hoch automatisiert, teilweise auf einem unbewussten Level in einer ganzen Kette von Sorgen ab, bei denen von einer Sorge zur nächsten gesprungen wird. Oftmals werden Situationen vermieden, in denen diese ausgelöst werden. Beispielsweise lesen Betroffene keine Zeitungsberichte mehr über Unfälle oder treiben keinen Sport aus Angst vor Verletzungen. Darüber hinaus bemühen sie sich, sich immer wieder rückzuversichern (Filipek, Matz & Berking, 2012). Wenn sich die Sorge zum Beispiel darum dreht, ob es einem Familienmitglied gut geht, das vor wenigen Minuten gerade erst zur Haustür heraus spaziert ist, werden Anrufe getätigt, um sich nach dem Wohlergehen des- oder derjenigen zu erkundigen. Geht die betroffene Person nicht ans Handy, werden gern auch andere Instanzen wie Arbeitskollegen oder ähnliche Ansprechpartner mit ins Geschehen einbezogen.
Die Sorgen von Menschen mit generalisierter Angststörung sind nicht per se unrealistisch. Es sind Inhalte, über die sich nahezu jeder den Kopf zerbricht, doch die Zeit, die GAS-Patienten mit den Sorgen zubringen, unterscheiden sich von dem Sich-Sorgen Nicht-Betroffener. 60% des Tages verbringen Personen mit GAS in etwa mit dem Wälzen beunruhigender Gedanken, wohingegen es bei Nicht-Betroffenen ca. 18% sind. Die Sorgen werden dabei als unkontrollierbar erlebt. Die Kernfrage, um die es sich dabei in der Regel dreht, lautet: „Was wäre, wenn…?“ (Morschitzky, 2004).
Durch das exzessive Sorgen, stehen die Betroffenen unter permanenter Anspannung. Dies zeigt sich unter anderem durch eine getriebene Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, angespannte Muskeln, Reizbarkeit, Nervosität oder leichte Ermüdbarkeit (Morschitzky, 2004). Auch Julia Friese (2019) äußert: „Also habe ich gearbeitet. Tags, nachts, immer.“. Darüber hinaus weist sie auf verschiedene körperliche Symptome hin, die sie mit der Zeit zu spüren begann.
Oftmals sind die Sorgen übrigens für die Betroffenen so vertraut, dass sie sich nicht deswegen Unterstützung von außen suchen, sondern weil ihnen die körperlichen Beschwerden Probleme bereiten. Leider kann dadurch ein längerer Arztmarathon in Gang gesetzt werden, der erst spät und manchmal auch nie in eine psychotherapeutische Praxis führt, da die eigentliche Erkrankung in diesem Kontext leicht übersehen wird (Hoyer & Beesdo, 2006). Dies ist eine Erfahrung, die Julia Friese (2019) ebenfalls schildert: „Ein Jahr lang wurde dieser Verdacht professionell untersucht. Kardiologie. Neurologie. Immer wieder Krankenhaus.“.
Sorgen sind nicht gleich Sorgen
Bei der generalisierten Angststörung lassen sich zwei Typen von Sorgen unterscheiden. Die Sorgen, die sich eher mit alltägliche Inhalten beschäftigen, werden als Typ-I-Sorgen bezeichnet. Davon lassen sich Typ-II-Sorgen abgrenzen, bei denen die Betroffenen, sich um das Sorgen sorgen (Filipek et al, 2012). Dabei halten die Betroffenen ihr gedankliches Schwelgen nicht zwangsläufig für ausschließlich negativ. Unter Umständen empfinden sie sie als sinnvoll, um sich auf potentiell bedrohliche Situationen besser vorbereiten zu können (Morschitzky, 2004).
Ein paar Zahlen zur generalisierten Angststörung
Die Wahrscheinlichkeit, im Leben an der GAS zu erkranken wird auf 5-7% geschätzt. Frauen sind in etwa doppelt so häufig betroffen, wie Männer (Hoyer & Beesdo, 2006; Morschitzky, 2004). Der Beginn der GAS verläuft oft schleichend und liegt bei ca. zwei Dritteln der Betroffenen zwischen dem 11.-20. Lebensjahr. Auch zwischen dem 30.-35. Lebensjahr findet sich eine erhöhte Zahl an Ersterkrankungen. Danach sind die Erkrankungsraten bis ins hohe Alter relativ gleich bleibend. Bei älteren Frauen über 55 Jahren ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung (Morschitzky, 2004).
Warum die vielen Sorgen – Kann man nicht einfach damit aufhören?
Die Sorgen haben in der Tat eine Funktion für die Betroffenen, die über die oben genannte Vorbereitung auf hypothetische problembehaftete Situationen hinaus geht. Oftmals ist sie den Erkrankten nicht bewusst. Doch durch eine rein gedankliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Themen, schützen sie sich vor zu intensiven Emotionen. Jene müssen nicht unbedingt Ängste sein, sondern können ebenso Gefühle von Wut, Trauer oder gar Freude umfassen. Dies erscheint noch nützlicher vor dem Hintergrund, dass Menschen mit generalisierter Angststörung ihre Fähigkeiten mit Herausforderungen umzugehen, also ihre Bewältigungsfähigkeiten, nicht als sonderlich hoch einschätzen. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass durch diese gedankliche Vermeidung auch zukünftig nicht die Erfahrung gemacht werden kann, dass sie im Grunde in der Lage sind, ihre Emotionen angemessen zu verarbeiten (Becker, 2009).
Tatsächlich versuchen Betroffene meist die Sorgen und Gedanken zu unterdrücken. Leider ist dies in der Regel nicht von Erfolg gekrönt. An dieser Stelle möchte ich Sie, werte(r) LeserIn, einmal bitten, für die nächsten drei Minuten NICHT an einen quietschgelben Luftballon zu denken.
Hat es geklappt? Vermutlich nicht, denn leider werden Gedanken, die wir zu unterdrücken versuchen genau durch diese Versuche verstärkt. Sie treten dadurch nicht nur häufiger, sondern auch intensiver auf (Wegner 1989, 1994 nach Becker, 2009). Ein Teufelskreis!
Menschen mit einer GAS neigen darüber hinaus dazu, Umgebungsinformationen anders und verzerrt wahrzunehmen. Reize, die mit Gefahr in Verbindung gebracht werden, werden dabei verstärkt berücksichtigt. Darüber hinaus werden jene Reize, die nicht unbedingt Gefahr bedeuten müssen, aber theoretisch können, eher im Sinne einer Bedrohung interpretiert (Filipek et al., 2012).
Neben diesen psychologischen Faktoren, sind auch biologische Voraussetzungen zu berücksichtigen. So spielen bei der Entwicklung der GAS genetische Faktoren eine Rolle sowie die Störung von Neurotransmittersystemen und eine tonische Einschränkung der Herzratenvariabilität. Diese stört das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus (Filipek et al., 2012). Einem Teil unseres Nervensystems, der mit An- und Entspannung in Verbindung steht.
Es ist für die Betroffenen folglich nicht ohne weiteres möglich, die Sorgen zu stoppen. Das liegt wie bei der Gesamtheit aller psychischen Erkrankungen nicht daran, dass sie unwillig oder nicht intelligent genug wären, sondern dass sie andere Voraussetzungen haben. Diese Voraussetzungen liegen auf verschiedenen Ebenen wie beispielsweise dem sozialen Umfeld, der genetischen Ausstattung und Lernerfahrungen sowie deren höchst individuellen Wechselwirkung untereinander. Mit Hilfe einer Psychotherapie, können Menschen mit einer generalisierten Angststörung jedoch neue Techniken erlernen, um das stetige Sich-Sorgen einzudämmen bzw. einen Umgang mit ihnen zu finden. Julia Friese (2019) beschreibt ihre Therapieerkenntnisse unter anderem so: „Immer wieder war ich überrascht, dass ich das konnte. Immer wieder war ich überrascht, dass nichts wirklich Schlimmes passierte.“.
Die generalisierte Angststörung in aller Kürze
Das ICD-10-GM beschreibt die Erkrankung kurz und prägnant:
„Die Angst ist generalisiert und anhaltend. Sie ist nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt, oder auch nur besonders betont in solchen Situationen, sie ist vielmehr “frei flottierend”. Die wesentlichen Symptome sind variabel, Beschwerden wie ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden gehören zu diesem Bild. Häufig wird die Befürchtung geäußert, der Patient selbst oder ein Angehöriger könnten demnächst erkranken oder einen Unfall haben.“ (DIMDI, 2018, S.189).
Irgendwie kommt mir das alles erschreckend bekannt vor…
Dieser Beitrag dient nicht dazu, sich oder anderen eine Krankheitsdiagnose zu stellen. Das sollten Sie grundprinzipiell einer Fachperson überlassen. Er soll vielmehr über die generalisierte Angststörung aufklären.
Wenn Sie sich unsicher sind, ob bei Ihnen eine generalisierte Angststörung vorliegt, gleichzeitig jedoch eine zu hohe Hemmschwelle vorliegt, um einen Arzt oder Psychotherapeuten zu konsultieren, berate ich Sie gern im Sinne eines aufklärenden Gespräches. Beachten Sie dabei jedoch, dass ich aus berufsethischen Gründen keine Diagnosen stellen darf. Weder zu Ihnen selbst noch zu dritten Personen.
Sollten Sie ein Angehöriger/eine Angehörige einer mit GAS erkrankten Person sein und Unterstützung im Umgang mit der Person wünschen, können Sie selbstverständlich gern ebenfalls einen Beratungstermin ausmachen.
Literaturverzeichnis
Becker, E. S. (2009). Generalisierte Angststörung. In J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Störungen im Erwachsenenalter (Springer E-book Collection, Bd. 02, 3. Aufl.). Berlin: Springer.
Berking, M. & Rief, W. (Hrsg.). (2012). Klinische Psychologie und Psychotherapie für Bachelor. Band I: Grundlagen und Störungswissen (Springer-Lehrbuch, Bd. 1). Berlin, Heidelberg: Springer.
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. (2018). ICD-10-GM. Systematisches Verzeichnis. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/downloads/?dir=icd-10-gm/version2019. Zugegriffen: 18. Januar 2019.
Filipek, M., Matz, J. & Berking, M. (2012). Generalisierte Angststörung. In M. Berking & W. Rief (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie für Bachelor. Band I: Grundlagen und Störungswissen (Springer-Lehrbuch, Bd. 1). Berlin, Heidelberg: Springer.
Hoyer, J. & Beesdo, K. (2006). Generalisierte Angststörung. In H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (Springer-Lehrbuch ). Heidelberg: Springer-Medizin-Verlag.
Julia Friese (Zeit Online, Hrsg.). (2019). Mein Herz schien wegzurennen. https://www.zeit.de/kultur/2019-01/koerper-psyche-angst-internet-vertrauen. Zugegriffen: 29. Januar 2019.
Margraf, J. (Hrsg.). (2009). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Störungen im Erwachsenenalter (Springer E-book Collection, Bd. 02, 3. Aufl.). Berlin: Springer.
Morschitzky, H. (2004). Angststörungen. Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe (3. Aufl.). Wien: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (Hrsg.). (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie (Springer-Lehrbuch). Heidelberg: Springer-Medizin-Verlag.